U18-EM: Innenansichten aus Györ - Sonntag

Letzter Tag in Ungarn. Wieder blauer Himmel, der durch keine Wolke verstellt wird. Der Blick wird hier auch durch keine Berge begrenzt. Man hat am Stadtrand von Györ absolute Blickweite und 360 Grad Horizont. Die Innenstadt hat durchaus Charme. Speziell die Fußgängerzone ladet zum Flanieren und zum Nahkampfsport Shoppen ein. Hier ist das Refugium für müde Touristen. In den Außenbezirken finden sich allerdings etliche Häuser mit Ruinen-Status. Vieles rostet und bröckelt vor sich hin. Feng shui kennt man hier nicht.

Der gestrige Abend war so herzerwärmend und erfolgreich, dass einige bis nach Mitternacht eine Art von Mahnwache hielten. Ich wurde vom Frühschlafer zum Spätsitzer. Es wurde viel gelacht und ein emotionaler Allzweckreiniger verkostet. Da hier kein Platz für Produktplatzierungen ist, wird das Genussmittel nicht verraten.

Der heutige Vormittag ist vom Programm ganz den Zehnkämpfern gewidmet. Matheo Ablasser und Daniel Bertschler haben sich bis jetzt gut geschlagen und die Erwartungen erfüllt. Die vermutete Verletzung von Daniel macht keine Sorgen mehr und verlangt keine präventive Defensive. Es war erstaunlich, wie Mike Sgarz, Daniels Trainer, in der gestrigen Alarmsituation ruhig blieb. Sein Gemüt blieb in Bodennähe. Ein junger Trainer mit sportlicher Selbsterfahrung und buddhistischer Ruhe.

Ein echter Gewinn für die Leichtathletik.

Die Leistungen von Matheo und Daniel im Zehnkampf sind auch am heutigen Tag berichtspflichtig. Der Hürdenlauf am Morgen hatte zwar wenige Zuschauer, dafür sammeln die beiden aber viele Punkte für die Gesamtrechnung. Nach sechs Disziplinen hat nun Matheo 4.277 und Daniel 4.456 Punkte. Das sind die Plätze 21 und 16.

Dann kommt der schicksalsträchtige Stabhochsprung. Auch hier zeigen beide eine Sonderleistung. Daniel wird mit 4,60 m Erster und Matheo springt mit 4,00 m persönlichen Rekord. Die Burschen kommen jetzt richtig in Schwung.

Als Sozialpsychologen sind mir bei diesen Europameisterschaften die besonderen Beziehungen zwischen den Trainern und Athleten aufgefallen. Ich treffe sie oft im Tandem an, meist in Zweiergespräche vertieft. TrainerInnen stehen in der Leichtathletik meist hinter der Kulisse und sind unbekannt. Auf der Bühne und in der Öffentlichkeit stehen die SportlerInnen. Nur Insider kennen zum Beispiel den Trainer von Usain Bolt oder Nafissatou Thiam. Es ist bewundernswert, mit welcher Leidenschaft viele Coaches jahrzehntelang ihre Kompetenz und Zeit der Leichtathletik widmen. Bei Jugendlichen sind TrainerInnen nicht nur fachliche Autoritäten. Sie sind auch Kumpel und manchmal Parallelväter und -mütter. Die Freuden und Leiden werden geteilt. Im Erwachsenensport sind die emotionalen Beziehungen distanzierter und abgegrenzter. Man sieht aber auch, dass unsere Trainer von den Jungen anerkannt und geschätzt werden. Ihr Wort und ihre Expertise zählen. Und die Trainer bekommen vielfach zurück, was sie in den letzten Jahren investiert haben. Nein, ich rede hier nicht von Geld.

Um 17 Uhr beginnt das Finale für Leo Lasch im Weisprung. Der Rückenwind ist wieder launisch, ruppig und oft über +3. Reihenweise werden Sprünge übertreten. Leo strapaziert mein Nervenkostüm und übertritt den ersten Sprung. Beim zweiten Sprung bekommt das Kostüm schon eine Laufmasche. Wieder übertreten. Jetzt wird es eng. Dann die Erleichterung. Ein weiter Satz in die Grube bringt 6,98 m und den Einzug unter die besten Acht. Dann schaue ich nicht mehr zu, um mir das irdisches Fegefeuer zu ersparen. Leo wird mit einem gültigen Sprung phantastischer Siebenter.

Dann kommt Lena Pressler. Vor ihrem Finallauf ist meine Stimmung schon auf Chili-Niveau. Lenas Eltern und der ÖLV-Vizepräsident Gottfried Lammerhuber sind als Supporter angereist. Lena sitzt ziemlich gelassen am Kaffeehaustisch. Mir kommt vor, ich bin nervöser als sie. Ich will nicht zu hoch träumen, denn über eine Medaille schreibt man leicht, erläuft sie aber schwer. Der Lauf selbst wird dann zur Bilderbuchgeschichte. Durch die Kurvenvorgaben ist keine Einlaufprognose möglich. Doch auf der Zielgeraden wird klar, dass Lena ganz vorne landen wird. Sie baut nicht ab, holt sogar kontinuierlich auf die Führenden auf. Lena gewinnt die Bronzemedaille, und jetzt lasse ich die 100 Emojis aus, die hier stehen sollten. Neuerlicher nationaler U18-Rekord. Irgendetwas mit 59 Sekunden. Wo ist jetzt der Champagner?

Auch für Johanna Plank lege ich mir die Ganzgroßbuchstaben zurecht. Sie tritt im Finale des 100-m-Hürdenlaufes zur neuerlichen Aufführung an. Und sie überrascht wieder. Und wie! Johanna holt sich auch die Bronzemedaille!!! Ist das – Achtung Jugendausdruck – geil? Wäre es finster, hielte ich jetzt das Feuerzeug in die Höhe. Eine Megasuperleistung.

Vor dem letzten Bewerb liegen unsere Zehnkämpfer weiterhin gut im Mittelfeld. Daniel hat bereits 6.271 Punkte gesammelt und Matheo 5.871. Eine kugelrunde Sache. Einmal noch Schuhe umziehen und im 1.500-m-Lauf die letzten Reserven mobilisieren. Und das ist jetzt nicht zynisch gemeint. Die Jungs fassen das auch nicht so auf und liefern auch hier eine Topleistung ab. Am Ende steht auf der Anzeigentafel: Daniel Bertschler 17. Platz mit 6.801 Punkten. Matheo Ablasser 22. Platz mit 6.445 Punkten. Das Mehrkämpferland Österreich hat zwei neue Helden.

Zum Abschluss der Meisterschaften kommt das Finale der Medley-Staffeln für Mädchen. Wir sind auch dabei, wenngleich auch nicht mit der vorgesehenen Besetzung. Katharina Mahlfleisch hat sich verletzt und die Staffel wird umgestellt. Lena Pressler springt ein. Die Girls lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie mit vollem Speed rennen werden. Sie  liefern ein heroisches Rennen, schlagen die Schweizer Staffel und werden mit 2:12 min Siebente. Besser geht’s nicht. Ein würdiger Abschluss.

Unser Team bringt drei Medaillen nach Hause und war dazu noch vielfach in finalen Wettbewerben vertreten. Von den persönlichen Erfahrungen und Bestleistungen kann ich jetzt aus Platzgründen gar nicht schreiben. Wir fahren mit einem vollen Glücks-Portfolio von Györ nach Österreich zurück.
 

 

08.07.2018 | Herbert Winkler

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